Viel Sex & Gewalt beim Filmfestival

09.08.2010 - 14:52 Uhr
Womb
Delphi
Womb
4
11
Die erste Hälfte des Filmfestivals in Locarno ist vorüber. moviepilot fasst für euch die letzten Tage zusammen und wagt eine erste Prognose für den Gewinnerfilm.

So viele Filme und so wenig Zeit! Beim Filmfestival in Locarno werden an elf Tagen ganze 350 Filme gezeigt – die alle zu sehen schafft auch der hartgesottenste Cineast nicht. Aber immerhin, vier bis fünf Filme am Tag sind drin und so habe auch ich inzwischen schon eine gute Portion Wettbewerbsfilme und Publikumsmagneten der Piazza Grande sehen können. Leider leidet bei derlei Filmkonsum die Nahrungsaufnahme erheblich. So bekam ich gestern mit wie zwischen zwei Filmen ein Kritiker zum anderen meinte: “Man, my stomach is so fucked up”, und gern hätte ich mich daneben gestellt und gesagt: “Man, I hear you. Mine is too.”

Aber was soll’s, man ist ja nicht zum Essen da, sondern zum Filme gucken – und da kann man sich über Schonkost im diesjährigen Wettbewerb wahrlich nicht beklagen. Die Auswahl der Wettbewerbsfilme von Festivaldirektor Olivier Père besticht durch ihre Direktheit und Aggressivität, ist geprägt von harten Konflikten, viel Sex und Gewalt, gern auch in Kombination. Der Eröffnungsfilm Deep in the Woods – Verschleppt und geschändet gab die Richtung vor, der schwule Zombieporno L.A. Zombie nahm den Faden mühelos auf (wir berichteten über beide). Absolut verstörend auch das italienische Drama Pietro, das von einem geistig Zurückgebliebenen erzählt, der sich um seinen drogenabhängigen Bruder kümmert, von ihm und seinen Freunden aber nur Hohn und Spott erntet. Doch Pietro ist gar nicht so debil, wie es auf den ersten Blick scheint, und befreit sich auf verhängnisvolle Weise aus seiner Lage. Der Film macht die Erniedrigungen, die Pietro erfährt, nicht nur sicht-, sondern auch spürbar und sorgt für absolute Beklemmung im Kinodunkel.

Das gilt auch für für die serbisch-deutsch-schwedische Koproduktion White White World von Regisseur Oleg Novkovic, der mit traumwandlerischer Stilsicherheit eine Familien- und Gesellschaftstragödie in der serbischen Minenstadt Bor inszeniert. Das Drama um Liebe, Missbrauch, Mord und Inzest besticht vor allem durch den Einsatz von Musik und Gesang: Die Protagonisten stimmen kurze Klagelieder an und am Ende steht, wie schon in der griechischen Tragödie, ein Chor von mehr als hundert Minenarbeitern, in deren Gesichtern die Kamera noch lange, nachdem der letzte Ton verklungen ist, forscht. Das berührt, bewegt und gibt dem Film nicht nur aufgrund seiner Spielzeit von 121 Minuten geradezu epische Dimensionen. Für mich bisher der beste Film des Festivals und‚ soweit man das zum jetzigen Zeitpunkt bereits einschätzen kann, der Top-Kandidat für einen Leoparden.

Ebenfalls um Inzest dreht sich Womb, der Film des ungarischen Regisseurs Benedek Fliegauf, der auch unter deutscher Beteiligung entstand. Rebecca (Eva Green) verliert die Liebe ihres Lebens Tommy (Matt Smith) bei einem Unfall. Um ihn auch weiter bei sich zu haben, wendet sie sich an das Institut für genetische Reproduktion und zieht schon bald einen geklonten Tommy als ihren Sohn auf. Doch als dieser erwachsen wird und seinem genetischen Vater immer mehr ähnelt, wird die Mutter-Sohn-Beziehung immer tabuloser. Verpackt in wunderbar atmosphärische Bilder, die bewusst nicht futuristisch daherkommen, tut Womb einfach so als wäre menschliches Klonen schon an der Tagesordnung. Anstatt zu verurteilen, nimmt Benedeks Film die Gefühle und Motivationen seine Protagonisten ernst und untersucht exemplarisch die Auswirkungen moderner Gentechnologie auf Identitäts- und Familiengefüge sowie die Gesellschaft als Ganzes.

Vom deutschen Wettbewerbsbeitrag war ich übrigens enttäuscht: Im Alter von Ellen erzählt die Geschichte einer gealterten Stewardess, die versucht ihrem Leben eine andere Richtung und neuen Sinn zu geben. Zwar gibt es schöne Kontraste (zwischen den künstlichen Flughafenwelten und exotischer Natur) und auch das zurückgenommene Schauspiel von Jeanne Balibar hat seine Reize, aber das Drehbuch schwächelt gehörig und lässt mit einer Fülle von Unwahrscheinlichkeiten Ellens Reise letztlich nur absurd und unwirklich erscheinen.

Unter den auf der Piazza gezeigten Publikumsfilmen stachen bisher vor allem Cyrus und Rubber heraus. Cyrus, der neue Film der Duplass-Brüder, ist die einzige Hollywood-Produktion, die in Locarno zu sehen war. Die Komödie um ein verzogenes Muttersöhnchen wird im November in Deutschland starten, wir werden sie euch demnächst ausführlicher vorstellen. Der geniale Rubber erhielt bis jetzt den meisten Applaus auf dem mittelalterlichen Marktplatz. Im vielleicht eigensinnigsten Film des Festivals wird ein Autoreifen zum Massenmörder und die Zuschauer umgebracht – witzig verpacktes postmodernes Kino, das große Fragen stellt ohne sie zu beantworten.

Fazit: 2010 ist ein gutes Locarno-Jahr! Der Wettbewerb präsentiert sich thematisch spannend und hochaktuell. Abgesehen von wenigen Fehlplatzierungen (L.A. Zombie, Mann im Bad – Tagebuch einer schwulen Liebe) bietet er Kino, das an die Nieren geht, das etwas zu sagen hat und Debatten eröffnen will. Das anspruchsvolle Wettbewerbsprogramm wird charmant durch die Publikumsfilme auf der Piazza ergänzt, die auf hohem Niveau unterhalten. Ob Wettbewerb oder Piazza – es lohnt sich auf jeden Fall die Filme im Auge zu behalten. Hoffentlich werden viele den Sprung nach Deutschland schaffen!

Das könnte dich auch interessieren

Angebote zum Thema

Kommentare

Aktuelle News